Theresienstadts Musikleben
„In Theresienstadt legte man Wert auf Kultur“, kommentierte Ruth Klüger diese Vielfalt rückblickend. In dem ehemaligen Provinzstädtchen entfaltete sich ein Musikleben, das in Niveau und Ausmaß dem einer größeren Stadt nicht nachstand: Neben mehreren Chören, Kabarettgruppen, klassischen und Unterhaltungsorchestern, wurden Musikkritiken geschrieben, Musikunterricht erteilt, ein von Viktor Ullmann geleitetes „Studio für neue Musik“ eingerichtet. Es erklangen symphonische Werke sowie Kammermusik von Mozart, Beethoven, Brahms, Janácek oder Suk, Opern wie „Carmen“, „Tosca“ oder „Die verkaufte Braut“, Oratorien, religiöse und nationale Lieder. In dem am 8. Dezember 1942 eröffneten Kaffeehaus, das man nach Erhalt eines der seltenen Berechtigungsscheine für zwei Stunden besuchen durfte, hörten die Gefangenen Unterhaltungsmusik und Swing. Neue Stücke unterschiedlichster Stilrichtungen, die sich zum Teil textlich oder musikalisch mit der Realität Theresienstadts auseinandersetzten, wurden komponiert und uraufgeführt. Dabei war das Reservoire der möglichen Interpreten für die Theresienstädter Komponisten erstaunlich groß. Denn viele inhaftierte Künstler trachteten danach, ihre Identität durch die Fortführung ihrer früheren Tätigkeit zu wahren. Die ,Stars’ unter ihnen waren als Mitarbeiter der „Freizeitgestaltung“ von körperlich anstrengenden Arbeitseinsätzen befreit, erhielten durch ihre geachtete Stellung kleine Vergünstigungen (bessere Unterkunft, zusätzliche Lebensmittel) und waren bis Herbst 1944 vor einer Deportation nach Auschwitz einigermaßen geschützt. Das Musikleben wurde aber nicht nur von professionellen Musikern bestimmt, auch Laien hatten daran einen bedeutenden Anteil.
Von der SS-Lagerleitung wurde dieses Kulturleben, das in schärfstem Gegensatz zu dem täglichen Versuch zu überleben stand, nicht nur geduldet, sondern war, da propagandistisch nützlich, sogar erwünscht. Ziel der im Dezember 1943 angeordneten sogenannten „Stadtverschönerung“ sollte die Präsentation Theresienstadts vor der Weltöffentlichkeit als vorbildliche jüdische Mustersiedlung sein. Das mit großem Aufwand betriebene Täuschungsmanöver gelang letztlich, und so bekam eine Besuchskommission des Roten Kreuzes im Sommer 1944 ein Potemkinsches Dorf vorgeführt, in dem die Insassen Theater spielten, Verdis „Requiem“ und Krásas Kinderoper „Brundibár“ aufführten, ja sogar der verfemten Jazzmusik, dargeboten von den „Ghetto-Swingers“, lauschen konnten. Der im August und September 1944 gedrehte Propagandafilm „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ diente ähnlichen Zwecken. Nach den sogenannten Liquidationstransporten vom 28. September bis 28. Oktober 1944, bei denen ca. 18400 Personen, unter ihnen Pavel Haas, Hans Krása, Gideon Klein und Viktor Ullmann, nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, folgte wiederum aus propagandistischen Erwägungen der erneute Aufbau eines Kulturlebens durch die verbliebenen Insassen und neu ankommende Häftlinge.
Auch einige Künstler erlagen der Illusion des „Musterghettos“ und widmeten sich ganz musikalisch-ästhetischen Fragen. Die auf diese Weise geschaffene Gegenwelt verhinderte, daß sie sich ihrer Rolle als Propagandainstrument bewußt wurden, wie der Jazzmusiker Eric Vogel betonte: „Wir Musiker fühlten nicht, daß uns unsere Unterdrücker nur als Werkzeug in ihren Händen betrachteten. Wir waren besessen und froh, daß wir den geliebten Jazz spielen konnten, und hatten uns in jener Traumwelt beruhigt, die von den Deutschen für Propagandzwecke produziert worden war.“ Dennoch dienten künstlerische Aktivitäten in Theresienstadt nicht nur der Propaganda oder einem Selbstzweck. Durch Auftritte in Alters- und Sterbeheimen, durch die Betreuung neu ankommender Künstler, besonders aber durch die Aufführungen von „Brundibár“ wird die Solidarität der Musiker gegenüber ihren Mithäftlingen, die erzieherische, bildungspolitische und psychologische Aufgabe von Musik im Lager Theresienstadt deutlich. Allein dadurch, daß die Musikerinnen und Musiker nicht resignierten, setzten sie Zeichen. Musik wurde so ein Mittel zur Wahrung der Identität von Musikern und Zuhörern, diente zugleich als Überlebenshilfe, bedeutet schließlich Hoffnung auf eine bessere Welt. Das Interesse an Musik in der Extremsituation des Lagers, das sich in häufigen Konzertwiederholungen oder der Notwendigkeit, Eintrittskarten auszugeben, ausdrückte, unterstreicht den metaphysischen Gehalt von Kunst gerade angesichts des nahen Todes.
Schließlich war Theresienstadt trotz dieser musikalischen Vielfalt keine Oase jüdischer Kultur. Obwohl es hier nach der offiziellen Erlaubnis, zu musizieren, einfacher als in vielen anderen Lagern war, Papier, Noten und Instrumente zu organisieren bzw. Proben- und Aufführungsmöglichkeiten zu schaffen, gab es auch im „Musterlager“ Beschränkungen, litten die Musikerinnen und Musiker an Hunger, waren sie ebenso durch Seuchen gefährdet und von Transporten bedroht wie ihre Mithäftlinge. Vielen Gefangenen bot sich überdies aus organisatorischen Gründen kaum die Möglichkeit, an dem künstlerischen Angebot teilzunehmen; andere waren dazu physisch nicht mehr in der Lage.