Lieder aus Zeugnissen

"Schrei, mein Herz, schrei!": Das Fortunoff Video Archiv Lieder aus Zeugnissen Projekt

Das Leiden der Juden unter dem Naziregime spiegelte sich in ihrer Musik und ihrem Musikleben wider. Die Musik bot den in Ghettos und Lagern internierten Frauen und Männern eine Möglichkeit, ihre Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen zum Ausdruck zu bringen, zu fliehen, sich aufzulehnen und nach Freiheit zu schreien. Der Akt des Singens ist ein menschlicher Akt der künstlerischen Darbietung, der eine andere Welt für den Sänger und das Publikum schafft. Die Lieder, die im Rahmen des Projekts Songs from Testimonies des Fortunoff Video Archive ausgewählt wurden, wurden von Überlebenden in Erinnerung gerufen, die ihre Geschichten erzählen und singen - in Wort und Musik - wahrscheinlich zum ersten Mal seit ihrer Befreiung. Diese Lieder beschreiben und bezeugen Orte, Ghettos, Lager, Deportationen, Sklavenarbeit und andere harte Umstände, mit denen die Überlebenden zu kämpfen hatten. Wenn diese Lieder gesungen werden - sowohl heute als auch damals - schaffen sie Momente der Erleichterung und des Trostes für die Sänger und ihre Zuhörer. Ebenso bieten diese Lieder eine Reihe von Einblicken in die Erfahrungen der Überlebenden sowohl während des Zweiten Weltkriegs als auch in der Zeit vor dem Krieg. Die sehr unterschiedlichen Kompositionen bilden eine Zeitachse, die dazu beiträgt, ein mehrdimensionales Bild des Lebens der Menschen und der vielfältigen Identitäten zu zeichnen, die sie trugen - als Juden aufgrund ihres Glaubens und ihrer Wurzeln und als europäische Bürger - Polen, Deutsche, Russen - aufgrund ihrer Kultur. Diese Identitäten wurden in der lebhaften und dynamischen Zwischenkriegszeit geformt, die durch mehrere Lieder in der Sammlung repräsentiert wird.

Entwicklung und Geschichte des Fortunoff Video Archivs

Die Wurzeln des Fortunoff Video Archive reichen bis ins Jahr 1979 zurück, als seine Vorgängerorganisation, das Holocaust Survivors Film Project (HSFP), in New Haven gegründet wurde. Es war das erste nachhaltige Projekt dieser Art, das Zeugnisse des Holocaust auf Video festhielt. Ein wichtiger Durchbruch, der heute vielleicht altmodisch erscheinen mag, aber 1979 war der Einsatz von Video in der Tat eine echte Innovation.

>

Aufnahme der Videoaussage eines Überlebenden für das Holocaust Survivors Film Project, 1979.

Wie viele frühere Holocaust-Dokumentationsprojekte war auch das HSFP eine Basisarbeit von Freiwilligen, zumeist Vertretern der Gemeinschaft der Überlebenden, den Kindern von Überlebenden und anderen Gemeindemitgliedern. Im Mittelpunkt stand William Rosenberg, der Leiter der Farband in New Haven, einer zionistischen Arbeiterorganisation. Rosenberg fungierte als Präsident der HSFP und ermutigte die Überlebenden nicht nur zur Teilnahme, sondern hielt auch Treffen in seinem Haus ab und brachte beträchtliche Mittel für die ersten Aufzeichnungen auf. Von Anfang an war es ein Projekt von Überlebenden für Überlebende. Dori Laub, eine der Mitbegründerinnen des Projekts und eine der Hauptinterviewerinnen, war zum Beispiel ein überlebendes Kind aus Czernowitz. Laub arbeitete mit der lokalen Fernsehmoderatorin Laurel Vlock zusammen, die durch ihre Erfahrungen beim Fernsehen vom Wert der Videodokumentation des Holocausts überzeugt war.

Das Archiv als "Archiv" wurde 1981 geboren, als die HSFP dank der Arbeit von Geoffrey H. Hartman, einem angesehenen Professor für vergleichende Literaturwissenschaft, 183 Zeugnisse in der Yale University Library hinterlegte. Geoffrey war mit einem Kindertransport aus Frankfurt geflohen, und auch seine Frau Renee gehörte zu den ersten vier Überlebenden, die von der HSFP im Mai 1979 aufgezeichnet wurden. Im Laufe der Zeit weitete sich die Reichweite des Archivs aus, und die Zeugnisse wurden nicht nur in New Haven aufgenommen, sondern auch von mehr als 30 Partnerprojekten nach New Haven geschickt, die Aufnahmen in Europa, Israel, Nord- und Südamerika durchführten. Das Fortunoff-Archiv wurde somit zum zentralen Aufbewahrungsort für diese Dokumentationsbemühungen und verpflichtete sich, diese Zeugnisse zu katalogisieren, zu bewahren und auf Dauer zugänglich zu machen. Die Projekte der Partnerorganisationen waren eine Erweiterung der anfänglichen "gemeinschaftlichen Bemühungen" lokaler Freiwilliger, oft Überlebende und Kinder von Überlebenden, die von Vertretern des Fortunoff-Archivs geschult wurden und in ihre Gemeinden eingebettet waren. Auf diese Weise "produzierte" sich das Archiv nicht nur selbst, sondern es "reproduzierte" sich selbst. Das Archiv wuchs auf mehr als 4400 Zeugenaussagen in über 20 Sprachen an, die zwischen 1979 und heute aufgezeichnet wurden.

Musikalische Erinnerungen

Das Projekt Songs from Testimonies sammelt und zeichnet Lieder und Gedichte auf, die in Aufnahmen des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies in Yale entdeckt wurden. Der Musiker des Archivs, Zisl Slepovitch, hat diese Lieder ausfindig gemacht, ihre Ursprünge recherchiert und dann mit seinem Ensemble, zu dem auch Sasha Lurje gehört, arrangiert und aufgenommen. Die Lieder und Gedichte in diesem Projekt wurden in verschiedenen Zeugnissen gesungen oder nacherzählt und spiegeln den Reichtum der audiovisuellen Dokumente wider. Es handelt sich um Lieder aus der Zwischenkriegszeit, aus den Ghettos und den Lagern. Ursprünglich wurden diese Lieder individuell und kollektiv gesungen, aber in den Zeugenaussagen der Überlebenden werden sie von Einzelpersonen erzählt oder vorgetragen. So erinnern sie uns daran, dass der Überlebende, der sie singt, stellvertretend für all diejenigen steht, die nicht überlebt haben, um noch einmal zu singen, und erinnern uns an die Abwesenheit des ursprünglichen Publikums.

Der Berater des Fortunoff-Archivs, Professor Timothy Snyder, hat einmal gesagt, dass Zeugnisse wie Kunstwerke eine besondere Fähigkeit haben, die Membran zwischen Tod und Leben, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden. Das Singen dieser Lieder kann nicht auf die gleiche Weise in einer schriftlichen Quelle geschehen. Das kann nur in einer Audio- oder audiovisuellen Quelle geschehen.

>

Ein Standbild aus dem Video-Zeugnis von Liubov' K.

In ihrer Zeugenaussage erzählt Liubov' K. (HVT-3280) von mehreren Liedern, die von Mitgefangenen gemeinsam geschrieben wurden. Eines davon, "In dem kleinem Dorf in Smiltschenzi", beschreibt das Leid jüdischer Mütter, die von ihren Kindern getrennt sind und sich nach ihrem Zuhause sehnen. Stil und Form des von Liubov gesungenen Liedes erinnern an die Kabarett- und Theaterlieder der Zwischenkriegszeit:

Translation by Daniel Kahn & Yeva Lapsker.

In the little village Smilchyntsi
In the camp the Jews are living miserably
Hear the women crying
Crying without end
Where is our homeland?
When will we return?

In the stall we live like pigs
Hungry as dogs are we
A child without a mother
A mother without child
Where is our homeland?
When will we return?

Jews, o Jews, o how we suffer
Nothing like it was ever known
The tears we’ve wept
Could be rivers
The blood we’ve spilled
Could be an ocean
The tears we’ve wept
Could be rivers
The blood we’ve spilled
Could be an ocean

In dem kleinem Dorf in Smiltchynti
wohnen Juden in dem Lager umgliklikh
Und die Frauen weinen,
weinen on ein grunt:
Voy ist unser haymayt,
wann zaynen wir zuhaus?

In der Stall wie Schweinen leben wir
und wie Hunde hungrig zaynen wir,
das Kind hat keine Mutter,
die Mutter hat kein Kind
Voy ist unser haymayt,
wann zaynen wir zuhaus?

Juden, Juden Leid ist uns
was von dem wusst kein Mann
Von di treren unzere
kanen Flüssen sein
fun dem Blut fun uns’ren
kann sein an okean.
Von di treren uns’re
keinen Fluessen sein
fun dem Blut fun uns’ren
kann sein an okean.

Jean B. (HVT-701) wurde 1919 in Lódź, Polen, geboren. Als Mitglied einer zionistischen Jugendorganisation ging Jean B. zum Studium nach Palästina, wo sie 1939 ihren Abschluss machte. In den Sommerferien besuchte sie ihre Eltern und saß bei Ausbruch des Krieges in Polen fest. Sie überlebte die vier Jahre (1940-44) im Ghetto von Lodz, einem der größten in Polen. Im Ghetto besuchte Jean viele Aufführungen (rewie) und choreographierte viele Tänze mit den Kindern, da sie selbst tanzte. Jean erinnert sich an den Namen von Szamaj Rozenblum, einem Lehrer, der zu ihrem Tanz sang, was sich als A. Lutzkys Gedicht "A Valts" (Der Walzer) herausstellte. Jean erinnerte sich nur an einzelne Strophen, nicht aber an die Musik; deshalb vertonte Zisl Slepovitch das Gedicht.

Translation by Daniel Kahn & Yeva Lapsker.

One, two, three, one, two, three
Couples spinning round—couples spinning round—
Do you know how?—Do you know how?
Trees in the woods are spinning round,
When you ride by—in a passing train.
One, two, three, one, two, three
When the fiddle plays—she spreads out the trails.
Do you know which ones? – Do you know which ones?—
A girl’s soft hands—under your feet—
spins you up in the air like rising smoke.
One, two, three, one, two, three.
When the mandolin—is ringing just like that—
Do you know what she does?—Do you know what she does? —
Your young days, those that are left behind—
She crumbles them one over the other—she crumbles them…
One, two, three, one, two, three.
When the little flute fifes—When the little flute fifes—
Do you know what you hear?—Do you know what you hear?—
The dead in the ground—they cry that way—
Why are they crying? —Why are they crying?
One, two, three, one, two, three.
When the drum sounds,—When the drum sounds,—
Do you know what it is?—Do you know what it is?—
That’s just the noise—the noise of the world—
That deafens in you—the fear of death.
One, two, three, one, two, three,
As the life is—such a spin.—
The cello is crying, “One—two—three.”
Everyone will leave this world.—
It pains me so, it pains me so!

Eyns, tsvey, dray, Eyns, tsvey, dray,
Porlekh dreyen zikh – porlekh dreyen zikh –
Veystu vi azoy, veystu vi azoy?
Beymer in vald dreyen zikh azoy –
Ven du forst farbay, in a ban farbay
Eyns, tsvey, dray, Eyns, tsvey, dray,
Az di fidl shpilt—shpreyt zi vegn oys—
Veystu vosere?—Veystu vosere?
Vaykhe meydl hent—unter dayne fis
Kroyzlen zikh aruf—vi a roy’kh aruf.
Eyns, tsvey, dray, Eyns, tsvey, dray,
Az di mandolin—tsimblt ot azoy—
Veystu vos zi tut?—Veystu vos zi tut?
Dayne yunge teg—di fargangenen
Breklt zi fanand, —breklt zi fanand.
Eyns, tsvey, dray, Eyns, tsvey, dray,
Az dos fleytl fayft,—az dos fleytl fayft,—
Veystu vos du herst?—Veystu vos du herst?
Toyte in der erd—veynen dos azoy,
Vos-zhe veynen zey?—Vos-zhe veynen zey?
Eyns, tsvey, dray, Eyns, tsvey, dray,
Az di poyk baroysht,—az di poyk baroysht,
Veystu vos dos iz?—Veystu vos dos iz?
Dos iz dokh der roysh—ot der velt-geroysh—
Vos fartoybt in dir—pakhed farn toyt.
Eyns, tsvey, dray, Eyns, tsvey, dray,
Az dos lebn iz—a gedrey aza.—
Veynt di vilontshel: eyns, tsvey, dray.
Veln fun der velt—ale zikh tsegeyn.
Tut mir azoy vey, tut mir azoy vey….

Moshe F. (HVT-1956) wurde 1913 in Uniejów, Polen, als jüngstes von acht Kindern geboren. Als Moshe in Auschwitz ankam, traf er einen Mann namens Mayer-Ber Gutman, der "schreiben konnte". Er schrieb zwei Gedichte, Azoy vi ikh bin nokh Oyshvits gekimen (Als ich nach Auschwitz kam...) und Himlen, o, himlen, vi iz mayn glik? (Himmel, oh Himmel, wo ist mein Glück?). Beide wurden auf die Melodien beliebter jiddischer Lieder der damaligen Zeit vertont. Die zweite Melodie und Strophe, die diesem Stück den Titel gibt, verwendet die Melodie des populären Liedes "Where Is The Little Street, Where Is That Little House?"

Translation by Daniel Kahn & Yeva Lapsker.

PART 1:
When we arrived in Auschwitz,
They took away the women and the children.
A great tumult happened there:
“In half an hour we will be in heaven.”

At night, on the plank-beds,
We put away our skinny bones.
We sleep with a hole in our hearts.
We will be set free shortly.

PART 2:
Heavens, oh heavens, where is my luck?
The moon and the snow are hidden by your look.
Where are our children? In what country are they?
In Auschwitz, in Treblinka, torn apart and disgraced.

PART 1:
Azoy vi mir zaynen nokh Oyshvits gekimen,
Froyen in kinder hot men tsigenimen
Iz dort gevorn a groyser timl
“In a halbe shu veln mir zayn in himl.”

In di nakht oyf di nares
Leygn mir avek di beyndelakh di dare.
Shlofn mit ofenung oyfn hertsn.
Oyf der fray veln mir zayn in kertsn.

PART 2:
O himlen, o himlen, a vu iz mayn glik?
Levone in shneyern bahaltn mit ayer blik.
Vu zenen undzere kinder? In velkhn land?
In Oyshvits, in Treblinke, tseshpolt in tsushand.

Den Original-Zeugnisausschnitt und das von Zisl und seinem Ensemble komponierte und gespielte Lied kann man hier anhören:

https://fortunoff.library.yale.edu/song/liubov-k-hvt-3280/

 

Aufgezeichnete Bände

Das Archiv hat inzwischen drei Bände mit Aufnahmen zu diesem Projekt fertiggestellt. Die ersten beiden Bände sind online auf der Projektwebsite verfügbar: songsfromtestimonies.org/

Auf dieser Website können Besucher Auszüge aus den Original-Zeugnissen hören, auf denen die Alben basieren, mehr über die Überlebenden erfahren, die diese Lieder in ihren Zeugnissen gesungen haben, und ausführliche Linernotes lesen. Die Linernotes liefern wichtige Hintergrundinformationen zur Geschichte und Bedeutung des Liedes, die Originaltexte sowie die englischen Übersetzungen. Sie finden auch eine Reihe von Videos, die jedes der vom Ensemble vorgetragenen Lieder zusammen mit einer Einführung von Zisl Slepovitch sowie einem kurzen Kommentar eines Wissenschaftlers präsentieren, der ideal geeignet ist, das jeweilige Lied zu analysieren und es in einen größeren historischen oder kulturellen Kontext einzuordnen.

Im Kern ist das Projekt Songs From Testimonies eine kulturelle Produktion, eine aufgezeichnete Performance, die auf Archivmaterial basiert. Es ist aber auch eine Lesart von Video-Zeugnissen als einzigartige historische Quelle, vielleicht eine unkonventionelle Lesart, aber dennoch eine Lesart. Einige der Lieder auf den Alben handeln vom Sterben und vom Tod, geschrieben und gesungen in den Lagern. Dieser Versuch, sie in Erinnerung zu rufen - teils anthropologisch, teils musikethnologisch, teils historisch - stellt sie auch wieder her. Wir hoffen, dass diese Wiederherstellung den Hörern hilft, das komplexe, multikulturelle Leben der Juden in Europa in der ersten Hälfte des 20th Jahrhunderts besser zu verstehen. Wir hoffen auch, dass sie als lebendiges Mahnmal dienen und die Kluft zwischen den Überlebenden des Holocaust, die größtenteils nicht mehr unter uns weilen, und uns, die wir diese Aufnahmen heute hören, überbrücken können.

>

Von Stephen Naron, Direktor des Fortunoff-Archivs

Weitere Videos finden Sie in der Songs from Testimony YouTube Playlist.

YIVO/Carnegie Hall veranstaltet eine Online-Aufführung von Band 2 der Songs from Testimonies. Von links nach rechts: Dmitry Ishenko, Sasha Lurje, und Craig Judelman. Foto von Christy Bailey-Tomecek, 15. April 2021

LEARN MORE