Walter Goehr (1903 - 1960)

Der Dirigent, Komponist und Arrangeur Walter Goehr wurde am 28. Mai 1903 in Berlin geboren. Er war der älteste von zwei Söhnen der jüdischen Eltern Julius Goehr und Thekla Mendelsohn. Letztere war mit der berühmten Komponistenfamilie Mendelssohn verwandt.

Goehrs erste musikalische Erfahrung bestand in der Arbeit als Operettendirigent an Berliner Theatern. 1921 wurde er als Schüler von Arnold Schönberg an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin aufgenommen. Unter Schönbergs Anleitung setzte er seine Ausbildung bis 1924 fort. Im folgenden Jahr begann er bei der Funkstunde AB Berlin zu arbeiten, wo er bis 1932 blieb. Laut Walters Sohn, dem Komponisten und emeritierten Professor Alexander Goehr, schätzte Goehr Schönberg sehr, und der Einfluss des Komponisten war in seinem Stil tief verankert. Allerdings ähneln Goehrs spätere Werke denen von Hindemith und Weill. Die Abkehr vom Schönberg'schen Serialismus lässt sich zum Teil damit erklären, dass Walter Goehr persönlich der Meinung war, dass nicht jeder dazu bestimmt war, die puritanische Herangehensweise an die Musik fortzusetzen, die ihm sein ehemaliger Lehrer vorschrieb. Dennoch blieb er ein begeisterter Anhänger der Musik Schönbergs und dirigierte im Laufe seiner Karriere viele Werke des Komponisten.

Im Jahr 1930 heiratete Goehr die Musikerkollegin Laelia Rivlin, die an der Hochschule für Musik Berlin bei Leonid Kreutzer studierte. Rivlin arbeitete anschließend als freischaffende Musikerin und untermalte Filme in den Berliner Stummfilmkinos mit Musik. Sie war auch Teil des Performance-Duos The Stone Sisters, das Jazz und Ragtime-Musik spielte. Nach Angaben ihres Sohnes Alexander lernten sich die beiden auf einer Party ihres gemeinsamen Freundes, des Filmregisseurs Billy Wilder, kennen.

Viele von Goehrs frühen Kompositionen wurden in dieser Zeit in Deutschland aufgeführt. Dazu gehört auch die bemerkenswerte Oper Malpopita (1931), die ausschließlich für das Medium Radio geschrieben wurde. Obwohl sie erst am 6. Mai 2004 in Berlin ausgestrahlt wurde, ist es wahrscheinlich, dass das Werk mit Blick auf die Berliner Funkstunde AB geschrieben wurde.

Die frühen 1930er Jahre brachten große Veränderungen für die Familie Goehr mit sich. Im Jahr 1932, dem Jahr der Trennung von der Berliner Funkstunde, wurde Goehrs Sohn Alexander geboren. Nur wenige Monate später übernahm Walter die Position des Musikdirektors bei der Gramophone Company (später EMI) und die Familie zog 1933 nach London um. Goehr arbeitete für Gramophone (1933-1939) an zahlreichen Aufnahmen als Dirigent, Arrangeur und Klavierbegleiter von Sängern wie dem italienischen Tenor Beniamino Gigli, dem österreichischen Tenor Richard Tauber und dem österreichisch-ungarischen/rumänischen Tenor Joseph Schmidt. Goehrs Aufnahmen wurden als anglisierte Versionen seines Namens aufgeführt, entweder "G. Walter" oder "George Walter". Eine von vielen bemerkenswerten Aufnahmen aus dieser Zeit war die Ersteinspielung von Bizets Symphonie in C für das Unternehmen.

Goehrs umfassende Ausbildung an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin bot viele Möglichkeiten. Neben seiner Arbeit bei Gramophone Records dirigierte Goehr das Raymonde-Orchester, dessen Aufführungen in den späten 1930er Jahren häufig in BBC-Radiosendungen zu hören waren. Ab 1939 setzte er auch seine bei der Funkstunde AB Berlin erworbenen Fähigkeiten als Arrangeur ein und orchestrierte, arrangierte und dirigierte für das BBC Theatre Orchestra in dessen regelmäßigen Sendungen mit leichter klassischer Musik. Für die BBC arbeitete er u.a. mit Lawrence Gilliam an seiner Erfindung "Opera of News", bei der er Nachrichtenmeldungen und Geschichten aus den Nachrichten in Hörspiele zu den jeweiligen Themen einbaute.

Außerdem arrangierte er für das Unternehmen mehrere Werke, die unter die Kategorie "Radio-Potpourri" fallen. Dieses Genre, das von dem ebenfalls emigrierten Komponisten Julius Burger begründet wurde, verwendet Themen oder Abschnitte aus bestehenden Musikwerken, die dann mit Begleitmusik kombiniert und um ein zentrales Thema herum verwoben werden. Während musikalische Potpourris seit dem 17ten Jahrhundert gebräuchlich sind und eine Dauer von mehreren Minuten haben, dauert ein "großes" Radio-Potpourri etwa eine Stunde. Beispiele für Goehr-Potpourris sind The Story of the Waltz (1939), The Story of the Ballet (1941) und England Dances(1940). Außerdem arrangierte er in den frühen 1940er Jahren in großem Umfang Musik für Radiosendungen während des Krieges.

Goehr erweiterte sein Arbeitsportfolio, als er 1943 von seinem Freund Michael Tippett angeworben wurde, um dem Lehrkörper des Morley College beizutreten. Dieses Engagement dauerte 17 Jahre, in denen Goehr viele wichtige Werke zur Uraufführung brachte, vor allem die erste britische Aufführung von Monteverdis Vesper 1610. Es ist bemerkenswert, dass viele der Flüchtlingsmusiker, die am College arbeiteten, ihre ersten Aufführungserfahrungen in Großbritannien unter der Leitung von Goehr machten.

Goehr war ein eifriger Förderer moderner Werke und brachte in einer Reihe von Konzerten in der Wigmore Hall in den 1940er Jahren Kompositionen von Schönberg und Strawinsky zur Uraufführung. Die Uraufführung von Benjamin Brittens Serenade im Jahr 1943 sowie die Uraufführung des Werks A Child of Our Time des Freundes Michael Tippett im Jahr 1944 fanden unter Goehrs Leitung statt. Das letztgenannte Werk wurde durch die Novemberpogrome von 1938 inspiriert.

Im Jahr 1946 wurde Goehr Nachfolger von Stanford Robinson als Dirigent des BBC Theatre Orchestra. Er arbeitete bis 1948 für das Unternehmen, übernahm aber auch weitere Engagements als Komponist und Dirigent für die Filmindustrie. Dies war zwar nicht neu in seinem Portfolio (bereits 1930 hatte er in Deutschland als Filmkomponist gearbeitet), doch dirigierte Goehr in den 1940er Jahren für mehrere  Filmsoundtracks. Beispiele sind die Verfilmung von A Canterbury Tale aus dem Jahr 1944, komponiert von seinem Freund Alan Grey, und die Filmmusik für die Verfilmung von Dickens' Große Erwartungen aus dem Jahr 1947 unter der Regie von David Lean.

In den 1950er Jahren setzte Goehr seine erfolgreiche Dirigentenlaufbahn mit vielen weiteren Premieren fort, darunter die erste britische Aufführung von Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 für die BBC (1950) und die erste Aufnahme von Monteverdis L'incoronaziore di Poppea (1952). (Die LP-Version wurde 1954 mit dem Grand Prix du Disque ausgezeichnet). Ebenfalls 1952 gab Goehr die britische Erstaufführung von Schönbergs Op.22 Lieder und zwei Jahre später die Uraufführung des zweiten Klavierkonzerts des amerikanischen Komponisten Lukas Foss. Eine weitere Uraufführung im Jahr 1959 beinhaltete das Kantatenwerk Die Sintflut des Sohnes Alexander Goehr.

Walter Goehrs vielseitige Karriere fand am 4. Dezember 1960 ein jähes Ende, als er nach einer Aufführung, in der er Händels Messias dirigierte, plötzlich in der City Hall in Sheffield, England, starb. Er wurde 57 Jahre alt. Alexander Goehrs Werk Kleine Sinfonie wurde als Hommage an seinen Vater nach dessen Tod geschrieben.

Sein Vater, so Alexander Goehr, hatte wenig übrig für die egoistischen Tendenzen, die es in der Musik oft gibt. Von den rund 50.000 Emigranten, die zwischen 1933 und 1945 nach Großbritannien kamen, gilt Walter Goehr als einer derjenigen, die einen bedeutenden Einfluss auf die britische Musik ausübten: Er komponierte Werke für Rundfunk, Bühne und Konzert, dirigierte und arrangierte für viele der großen Ensembles der Zeit, förderte die Werke moderner Komponisten und weckte das Interesse an alten Meistern wie Monteverdi und begleitete eine Reihe talentierter Künstler für das Label Gramophone.

Von Ryan Hugh Ross

Quellen

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