Die musikalischen Entscheidungen des Kommandos waren nicht kausal oder prädiktiv für seine Handlungen, sondern verdeutlichten vielmehr sein zusammenbrechendes Weltbild. Die anhaltende (oder untergehende) NS-Identität und die Musik sind mit einer Klanggeschichte der letzten Tage des Reiches verbunden. Wenn sich das Dritte Reich auf eine mythologisierte deutsche Identität stützte, dann ist die Musik ein zentraler Bestandteil dieser Identifikation. Reichte die Musik aus, um die Psychologie des Zusammenbruchs zu vermitteln, oder sogar den Klang der Artillerie in Berlin? Wie dauerhaft war die psychologische Identifikation mit dem Nationalsozialismus, und in welcher Weise trug die Musik zur Identitätsbildung im Falle des Zusammenbruchs bei?
Selbst im totalen Zusammenbruch, umgeben von nur engen Freunden und wenigen Besitztümern, genoss Hitler die Musik und besaß eine umfangreiche Schallplattensammlung in den verschiedenen Führerbunkern. Die Pläne für das verbliebene Hauptquartier (FHQ - Führer-Haupt-Quartiers) behielten Wagnerianischen Namen: Der inoffizielle Berghof und Führerbunker in Berlin, Wolfsschanze in Polen, Berchtesgaden, "WO", "Brünnhilde", "Rüdiger", "Adlerhorst" und "Siegfried". Im Berliner Bunker, wo es ununterbrochenen und vernichtenden Lärm von Schukows "Wunderwaffe", dem Katjuscha-Raketenwerfer "Organs of Stalin" gab. Goebbles sprach von den endlosen "Moskitos", dem Geräusch der Flugzeuge, die ständig über ihm schwebten. Obwohl nichts dieses Geräusch vermitteln konnte, organisierte Speer eigens für Hitler eines der letzten Konzerte der (Berliner) Reichsphilharmonie in der zerstörten Halle: eine Orchesterauswahl aus der Oper die Götterdämmerung, die gewaltige 7. Symphonie und das Violinkonzert von Beethoven. Das Konzert, in dem ein einzelner Geiger in der letzten Kriegswoche gegen alle Widerstände und unter größtem Druck auftritt, scheint eine treffende Parallele zur Vergeblichkeit des Einzelnen beim Zusammenbruch des Reiches zu sein. Das letzte Konzert der Reichsphilharmonie war ein noch deutlicherer Ausdruck des Scheiterns, als sie Brahms' Deutsches Requiem für die Truppen aufführte, während sich Hitler mit Goebbels und seinen anderen Getreuen in seinen Bunker zurückzog.
Trotz anderer dringender militärischer Prioritäten schleppte Hitler Schallplatten in den Bunker, darunter vorhersehbare Favoriten von Wagner, Liszt und Beethoven sowie einige Ausreißer wie Modest Mussorgskys Arie "Der Tod des Boris Godunow", dargeboten vom russischen Bass Fjodor Schaljapin, und - bizarrerweise - eine nicht näher bezeichnete Aufnahme der Musik von Artur Schnabel - einem Österreicher, der von der Nazi-Partei ins Exil geschickt wurde. Wie in den Erfahrungsberichten von Lew Besymenski vermerkt, war die letzte Platte auf dem Plattenspieler im Bunker jedoch Tschaikowskis Violinkonzert, gespielt von Bronislaw Huberman. Der von Wagner besessene Tyrann starb, nachdem er ein russisches Konzert gehört hatte, das von dem jüdischen Geiger im Exil gespielt wurde, der die israelische Philharmonie gründete.
Auch andere, die in die Alpen flohen, wie Göring und Bormann, blieben den verrückten Ideologien des Nationalsozialismus treu und behielten bis zu ihrer Verhaftung unpraktische und mythologisierte Elemente ihres persönlichen Stils bei. Im Februar packte Göring seine geliebte Hütte samt "seinen alten Trinkgläsern, seinen Teppichen, seinen Wandteppichen, seinen Schallplatten und seinen Bildern", um sie nach Berchtesgaden zu bringen. Dann schmückte er sich mit einer prächtigen Jagduniform, schoss vier seiner Lieblingswisente und paradierte unter seinen Waldarbeitern, bevor er in seinen Dienstwagen stieg. Als er verhaftet wurde, musste er seine Medaillen, den massiv goldenen Marschallstab, goldene Epauletten und einen riesigen Diamantring abgeben, blieb aber guter Dinge, spielte mit den amerikanischen GIs Akkordeon und Klavier, sang Ausschnitte aus Der Meistersinger und blieb von seiner großartigen Darstellung in der deutschen Geschichte überzeugt.
Bevor er schließlich die Kapitulation der Nazis vermittelte, als Doenitz sich am 1. Mai mit der Nachricht von Hitlers Tod an die Nation wandte, wurden die Hauptnachrichten im Norden dreimal mit Wagnerschen Auszügen aus übertragen;Tannhäuser, Das Rheingold, und Die Götterdämmerung zusammen mit Bruckners 7th Symphonie. Die affektiven Verbindungen zu Doenitz' Programmauswahl betonen erneut den historischen und germanischen Mythos und eine Parallele zu dem wahnsinnigen bayerischen, ebenfalls wagnerianischen König Ludwig II. Wagner folgte der Hitler-Mystik auch nach seinem Tod, wobei sein Tod ausdrücklich nicht als Selbstmord, sondern als Kreuzzug gegen die UdSSR und für ganz Europa beschrieben wurde. Wie die Lügen von Doenitz über einen glorreichen Tod und den andauernden Kreuzzug des Reiches spiegelten sich seine Worte in der Musik Wagners wider, die Hitlers Weltanschauung prägte.
Während die Führung des Dritten Reiches ihre Besessenheit von Wagner und einer verzerrten Mythologie fortsetzte, die sie in den Mittelpunkt eines scheiternden "Tausendjährigen Reiches" stellte, erreichten die Todesmärsche Buchenwald und Dachau, und die Sowjets und andere Alliierte behielten auf brutale Weise die Kontrolle über Berlin. Die Wahnvorstellungen der nationalsozialistischen Führung waren selbst bei einem offensichtlichen Zusammenbruch des Reiches mit verbrannter Erde beständig und unveränderlich. Aus den Trümmern Berlins mussten die Berliner Philharmoniker und andere Institutionen der klassischen Musik wieder auferstehen und einen Prozess der Entnazifizierung und der Abrechnung mit der Vergangenheit beginnen.
Für eine ausführlichere Fassung dieses Artikels siehe "Kapitel V: Walhalla brennt: Music and the Teutonic Delusions of the Nazi Command in the Final Days of World War II", in Alexandra Birch, Hitler's Twilight of the Gods: Music and the Orchestration of War and Genocide in Europe (Toronto: University of Toronto Press, 2024).
Von Alexandra Birch, Mai 2024
Quellen
Abby Anderton, Rubble Music (Bloomington, IN: Indiana University Press, 2019).
Joachim Fest, Inside Hitler's Bunker The last days of the Third Reich (New York: Farrar, Straus, Giroux, 2004).
John Toland, Adolf Hitler (New York: Doubleday&Co, 1976)
Hugh R. Trevor-Roper, Hitler's Table Talk (New York, NY: Enigma Books, 2000).
Fritz Trümpi, Politisierte Orchester: Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmoniker im Nationalsozialismus (Wien: Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. 2011).
Volker Ullrich, Acht Tage im Mai. Die letze Woche des Dritten Reiches (München: Verlag C.H. Beck OHG 2020).